Ein Wegweiser durch klassisch und agil
„Agilität“ ist in aller Munde und auch im Prozessmanagement gilt agil als hip und trendy. Aber es ist kein Allheilmittel und es wäre unsinnig, Agilität über alles drüber stülpen zu wollen. Vielmehr eröffnen sich dort neue und effektive Möglichkeiten, wo klassisches Prozessmanagement an seine Grenzen stößt. Finden Sie hier die wichtigsten Infos und Kriterien, um den richtigen Weg zu finden – der auch ein Mix aus beiden Welten sein kann.
Von Egon Hren
Ich setze mich bereits seit über 20 Jahren mit dem Thema „Agilität“ auseinander, quer durch unterschiedliche Unternehmensbereiche. Und ja, Agilität ist eine großartige Sache und kann Organisationen helfen. Wobei die Betonung auf „kann“ liegt … denn man muss wissen, wann, wo – und natürlich WIE – Agilität eingesetzt werden kann, damit sie wirklichen Nutzen stiftet.
Aus meiner Sicht können agile Ansätze im Prozessmanagement auf unterschiedliche Weise und Anwendungsbereichen helfen. Dabei geht es nicht um ein Ersetzen des „klassischen“ Prozessmanagements, sondern um ein Anreichern, Ergänzen und Adaptieren des Bestehenden.
Es braucht also beide Welten: klassisch und agil. Es geht nicht um ein entweder–oder, sondern um ein sowohl–als auch. Und vor allem geht es um eine klare, transparente Entscheidung, wieso und wann wir das eine oder das andere benötigen. Hier passieren auch die meisten Fehler im Management – und diese resultieren oft aus Unkenntnis und/oder falsch verstandener Trend-Hörigkeit. Wenn Sie diesen Beitrag lesen, sollte Ihnen das nicht mehr passieren. Hier erhalten Sie einen grundlegenden Einblick in:
Leitfaden Teil 1:
1) Ursachen für die Notwendigkeit von Agilität – die neue „VUCA“-Welt
2) Definition und Unterscheidung von klassischem und agilem Prozessmanagement
3) Entscheidungsgrundlagen für die Wahl zwischen klassisch oder agil
Leitfaden Teil 2:
4) Betriebliche Voraussetzungen für Agiles Prozessmanagement
5) Agile Arbeitsweise, Methoden und Techniken
6) 6 Säulen im agilen Prozessmanagement (um Fehler zu vermeiden)
Bevor wir über die betrieblichen Voraussetzungen für Agiles Prozessmanagement sowie agile Methoden und Techniken sprechen können, bedarf es der grundlegenden Definition sowie der Unterscheidung zwischen klassischem und agilem Prozessmanagement. Und wer von der „VUCA-Welt“ noch nichts gehört oder gelesen hat, bekommt im nächsten Kapitel noch eine kurze Einführung in jene globalen Umwälzungen, die maßgeblich dafür verantwortlich sind, dass Agilität nicht nur hilft, sondern in manchen Branchen den langfristigen Erfolg eines Unternehmens sicherstellt:
2. Definition und Unterscheidung: Klassisches vs. Agiles Prozessmanagement
2.1 Klassisches Prozessmanagement (auch Geschäftsprozessmanagement)
Das Prozessmanagement umfasst grundlegend die Schritte Planung, Durchführung, Controlling sowie die Optimierung von miteinander verbundenen Aufgaben der wesentlichen Unternehmensprozesse (Management-, Kern- u. Unterstützungsprozesse). Es beantwortet stets die Frage: „Wer macht was, wann und unter Zuhilfenahme welcher Ressourcen?“. Im Fokus steht hier die Optimierung der Wertschöpfungskette.
Es gliedert sich in folgende Einzelschritte, die die Prozesse des Alltags einer Organisation erfassen, darstellen und steuern sollen, damit das Geschäft/der Zweck eines Unternehmens bestmöglich abläuft – ganz gleich, ob das Produktentwicklungen oder Dienstleistungen sind, die das Unternehmen anbietet:
- Erhebung – Ermitteln des Ist-Prozesses
- Darstellung und Freigabe – Darstellung / Dokumentation und Freigabe des Ist-Prozesses
- Analyse und Gestaltung – Analyse und Definition des Soll-Prozesses auf Basis der gefundenen Verbesserungspotentiale
- Umsetzung – Vorbereitung und Umsetzung der notwendigen Prozessanpassungen
- Steuerung und Optimierung – Prüfung der durchgeführten Anpassungen, die sich anhand der vorher definierten Kennzahlen und Verläufe ergeben, Durchführung des kontinuierlichen Verbesserungsprozesses
Wann braucht es ein Prozessmanagement?
Wenn Prozesse sehr schnell und oft intuitiv gewachsen sind – zum Beispiel in einer Start Up-Situation, dann wird nur selten überlegt, wie man (gemeinsam) arbeiten will, damit alles möglichst effektiv abläuft. Ein Start-Up fängt einfach an zu arbeiten ist kreativ, probiert vieles aus, lernt permanent dazu… arbeitet also intuitiv agil. Die dabei erlernten Arbeitsweisen und Abläufe sind einfach da und es Bedarf (vorerst) keines Prozessmanagements.
Dem gegenüber sind größere Organisationen viel komplexer strukturiert. Die Prozesse können nicht losgelöst voneinander betrachtet werden, es bestehen viele Abhängigkeiten, viele involvierte Personen bzw. Rollen und mehrstufige Entscheidungswege. Je nach Unternehmensgegenstand müssen oft gesetzliche Regulatorien eingehalten, dokumentiert und deren Einhaltung – im Falle einer Überprüfung – auch nachgewiesen werden. Es braucht somit genormte Abläufe, klare Vorgaben und auch Dokumentationen, was wann und durch wen passiert. Gleichzeitig sind, trotz der umfangreichen Komplexität, die Einfachheit, Zielorientierung und die Beteiligung der relevanten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Triebfedern des Prozessmanagement.
So gesehen könnte man es - etwas vereinfacht - von der Unternehmensgröße und dessen Unternehmensgegenstand abhängig machen, ob Prozessmanagement notwendig ist oder nicht, beziehungsweise in welchem Ausmaß dieses Anwendung finden muss.
2.2 Agiles Prozessmanagement
Wenn man genau hinsieht bringt das „klassische“ Prozessmanagement bereits einige Elemente aus der agilen Welt mit, bspw. die Anwendung des kontinuierlichen Verbesserungsprozesses.
Bereits deshalb bedeutet „Agiles Prozessmanagement“ nicht ein Ersetzen des „klassischen“ Prozessmanagement, sondern stellt Denkweisen (Mindset), Ansätze, Methoden und Techniken bereit die einen Mehrwert bieten sollen. Dieser Mehrwert muss sich dabei auf den zusätzlichen Kundennutzen beziehen und keinem Selbstzweck dienen.
Aber was genau heißt „agil“ – und woher stammt dieser Ansatz?
Auf Basis dieser Lean-Prinzipien bzw. dem „Lean-Development“ entstanden in den 90-er Jahren im Kontext der Softwareentwicklung unterschiedliche Vorgehensmodelle und Frameworks. Diese Vorgehensmodelle hatten das Ziel komplizierte Systeme unter komplexen Rahmenbedingungen zu entwickeln die vielen Stakeholdern mit wechselnden und widersprüchlichen Anforderungen ausgesetzt sind. Im Zentrum dieser Vorgehensmodelle steht eine iterative und inkrementelle Produktentwicklung mit einer starken Kundenbeteiligung und der Maximierung des Kundennutzens.
Mitunter haben sich Kent Beck, der Erfinder von „Extreme Programming“ sowie Ken Schwaber und Jeff Sutherland als „Scrum“-Erfinder – im Jahr 2001 zusammengetan, den Begriff „agile“ (= „anpassbar“) geprägt und das „Agile Manifesto“ herausgegeben, das bis heute in der folgenden Form maßgeblich ist:
Wir erschließen bessere Wege, Software zu entwickeln,
indem wir es selbst tun und anderen dabei helfen.
Durch diese Tätigkeit haben wir diese Werte zu schätzen gelernt:Individuen und Interaktionen mehr als Prozesse und Werkzeuge.
Funktionierende Software mehr als umfassende Dokumentation.
Zusammenarbeit mit dem Kunden mehr als Vertragsverhandlung.Reagieren auf Veränderung mehr als das Befolgen eines Plans.
Das heißt, obwohl wir die Werte auf der rechten Seite wichtig finden,
schätzen wir die Werte auf der linken Seite höher ein.
Das Manifest – bestehend aus vier (hier zitierten) Grundaussagen sowie 12 grundlegenden Prinzipien, die die agile Zusammenarbeit mit Fokus auf die Software-Entwicklung beschreiben - kann man in vielen Sprachen im Internet unter agilemanifesto.org nachlesen.
Agilität in der Anwendung für Prozessmanagement
Wenn man das „Agile Manifest“ liest, findet man kaum etwas, was extrem überraschend oder neu wäre – vielmehr hat das Niedergeschriebene zumeist mit gesundem Menschenverstand zu tun, quasi ein manifestierter Ausdruck einer lösungsorientierten Denkweise für die Herausforderungen der VUCA-Welt.
Und so übernahm man in den folgenden 20 Jahren – bis heute – in vielen Bereichen, wie eben auch im Prozessmanagement, diese agilen Thesen bei allem, was mit Flexibilität, Anpassbarkeit, Team-Verantwortung, Selbstorganisation, komplexe Umgebungen etc. zu tun hat.
So kann man das, was 2001 explizit niedergeschrieben wurde, auf andere Bereiche passend ummünzen – und zum Beispiel proklamieren:
Funktionierende Prozesse sind wichtiger als eine gute Prozess-Dokumentation.
3. Entscheidungsgrundlagen für die Wahl zwischen klassisch oder agil
Es geht also darum, „agil“ nicht als Modeströmung zu sehen und vielleicht sogar missbräuchlich für Marketingzwecke zu verwenden, weil es als „modern und gefragt“ gilt, und so eine Dienstleistung aufwertet. Vielmehr muss man genau hinterfragen, ob man das wirklich braucht und ob es überhaupt zur Situation passt: Agil ist kein Allheilmittel!
Und selbst dort, wo es Sinn macht, passt Agilität nicht immer zu 100 Prozent, aber es kann sehr effektiv und gut unterstützen und helfen in der VUCA-Welt, in der wir aktuell leben. Wo es passt und wo nicht – erörtern wir im Folgenden:
Klassifizierung von Prozessen nach dem Cynefin*-Modell
*) Begriffserklärung: Cynefin [sprich: kə'nɛvɪn] ist ein walisisches Wort, das üblicherweise im Deutschen mit „Lebensraum“ oder „Platz“ übersetzt wird, obwohl diese Übersetzung nicht seine volle Bedeutung vermitteln kann. Der Begriff wurde von dem walisischen Gelehrten Dave Snowden gewählt, um die evolutionäre Natur komplexer Systeme zu veranschaulichen, einschließlich ihrer inhärenten Unsicherheit. [Quelle: Wikipedia]
Neben der klassischen Prozesswürdigkeitsanalyse, in welcher bestimmt wird welche Prozesse im Prozessmanagement berücksichtigt werden sollen bzw. müssen, stellt das Cynefin-Modell eine ergänzende Klassifizierungsmöglichkeit von Prozessen bereit.
Vom ehemaligen IBM-Mitarbeiter und Berater Dave Snowden erfunden, dient das Cynefin-Framework als Wissensmanagement-Modell, um Probleme, Situationen und Systeme zu beschreiben. Das Modell liefert eine Typologie von Kontexten, die einen Anhaltspunkt bieten, welche Art von Erklärungen und Lösungen zutreffen könnten – oder in unserem konkreten Fall: Das Cynefin-Modell hilft Führungskräften bzw. Prozessverantwortlichen dabei, Managementsituationen bzw. Prozesse richtig einzuschätzen, um sich danach für ein klassisches oder die passenden agilen Ansätze im Prozessmanagement entscheiden zu können.
Die richtige Klassifizierung - das Um und Auf
Mit dem Wissen um diese Kategorisierung können Klassifizierungs-Fehler vermieden werden! Aus meiner Praxis kann ich berichten, dass Manager bzw. Prozessverantwortliche einzelne Prozesse oft simplifizieren und einen im Alltag komplexen Prozess sehr oft als komplizierten oder gar einfachen Prozess darstellen. So führt die „unrealistische“ bzw. unvollständige Prozesssicht häufig zu Managemententscheidungen, die im Nachhinein oft schwer revidierbar sind und gleichzeitig viele schwierige, oft unangenehme Fragestellungen unter den Prozessbeteiligten aufwerfen. Als „chaotisch“ zu klassifizierende Prozesse und alle ad-hoc-Situationen werden vielerorts erst gar nicht dokumentiert. Agile Ansätze im Prozessmanagement können insbesondere bei komplexen und chaotischen Prozessen dabei unterstützen ein realistischeres und vor allem kurzfristig anpassbareres Prozessmanagement zu ermöglichen.
Hier liegt für mich der Schlüssel und eine wichtige Aufgabe der Führungskräfte und Manager, dass diese die entsprechenden Prozesswelten so sehen, wie sie sind und nicht so, wie man sie haben will!
Der Schlüssel zum Erfolg: Beteiligung der Menschen + Offenheit + einfache Anwendbarkeit
Um Prozesse richtig qualifizieren zu können, braucht man die Menschen, die darin und damit arbeiten. Diese muss man zu Beteiligten machen. Nur so bekommt man einen Einblick, wie die Prozesse tatsächlich sind.
Es braucht Offenheit, Transparenz und die Wahrhaftigkeit, dass jeder offen und ehrlich Dinge sagen kann und dass wir gemeinsam als Unternehmen dann daran arbeiten, diese Prozesse zu verbessern.
Genau diese Werte und Prinzipien bringen die agilen Ansätze auch für das Prozessmanagement mit!
Das klingt alles einfach und logisch … und genau genommen ist es das auch: Agilität ist nichts komplett Neues mit Wow-Effekt. Neu sind vielleicht die Begriffe für einzelne Modelle und Methoden – aber das, was dahinter steckt, ist grundsätzlich keine komplizierte Wissenschaft. Gleichzeitig ist die Änderung der Denkweise in Richtung Offenheit, Transparenz und dem Willen zur raschen Adaptierbarkeit für die beteiligten Rollen im Unternehmen doch oft eine große Hürde.
Und das ist auch der Schlüssel zum Erfolg: Es muss möglichst einfach sein, damit es die Menschen leicht verstehen, nachvollziehen und anwenden können, sonst wird es nicht genutzt.
Gleichzeitig muss es praktikabel sein – was uns auf den Punkt „Agile Methoden und Techniken“ bringt. Dazu mehr im Teil 2 dieses Beitrags, der mit unserem nächsten nlc-Newsletter Ende September erscheint bzw. ab dann auf unserer Website nachzulesen ist.